Wein-Glossar

Abgang - Das letzte Kapitel eines großen Weins

5. Dezember 2025
verkostungsensorikweinqualität

Der Abgang beschreibt den geschmacklichen Nachhall eines Weins. Erfahren Sie, woran man Qualität erkennt und wie man ihn richtig bewertet.

Kurzdefinition

Der Abgang bezeichnet den geschmacklichen und aromatischen Eindruck, der nach dem Schlucken oder Ausspucken des Weins im Mund verbleibt. Er ist ein entscheidendes Qualitätsmerkmal: Je länger und komplexer der Abgang, desto hochwertiger ist in der Regel der Wein.

Auf einen Blick:

  • Kategorie: Verkostung, Sensorik
  • Herkunft: Deutschsprachige Weinsprache
  • Synonyme: Nachhall, Finale, Länge, Persistenz
  • Englisch: Finish, Length, Aftertaste

Detaillierte Erklärung

Der Abgang ist die letzte Phase der Weinverkostung und wird oft als der wichtigste Moment der sensorischen Beurteilung bezeichnet. Er umfasst alle geschmacklichen und aromatischen Eindrücke, die nach dem Schlucken des Weins wahrnehmbar sind – sowohl im Mundraum als auch über den retronasal empfundenen Geruchssinn.

Fachlich wird beim Abgang zwischen verschiedenen Aspekten unterschieden:

Länge: Die Dauer des Abgangs wird in Sekunden gemessen, wobei Spitzenweine durchaus 20, 30 oder mehr Sekunden Länge erreichen können. In der professionellen Verkostung spricht man von "Caudalies" – einer Maßeinheit, bei der eine Caudalie einer Sekunde entspricht.

Qualität: Ein guter Abgang zeichnet sich nicht nur durch Länge aus, sondern auch durch Komplexität, Harmonie und die Entwicklung der Aromen. Er sollte sauber sein, ohne störende Elemente wie übermäßige Bitterkeit oder chemische Noten.

Evolution: Bei hochwertigen Weinen verändert sich der Geschmack im Abgang. Neue Aromen können auftreten, die im ersten Eindruck noch nicht präsent waren. Diese Entwicklung ist ein Zeichen von Komplexität und Tiefe.

Der Abgang entsteht durch die Interaktion von Alkohol, Säure, Gerbstoffen (bei Rotweinen), Restzucker und aromatischen Verbindungen mit den Geschmacksrezeptoren und der Mundschleimhaut. Bestimmte Moleküle bleiben länger im Mund haften und entfalten sich zeitversetzt.

Praktische Bedeutung

Im Glas

Der Abgang offenbart die wahre Qualität eines Weins. Während der erste Eindruck täuschen kann, zeigt sich im Abgang, ob ein Wein substanziell und harmonisch ist oder oberflächlich bleibt. Ein kurzer, abfallender Abgang deutet oft auf einfache Qualität hin, während ein langer, vielschichtiger Abgang ein Qualitätsmerkmal ist.

Beim Einkauf

Die Länge und Qualität des Abgangs ist ein verlässliches Kriterium zur Bewertung des Preis-Leistungs-Verhältnisses. Weine mit langem, komplexem Abgang rechtfertigen höhere Preise, während bei Alltagsweinen ein mittlerer, sauberer Abgang ausreicht.

Bei der Verkostung

Professionelle Verkoster warten nach dem Schlucken bewusst 10-30 Sekunden und konzentrieren sich auf den Abgang. Dabei atmen sie leicht durch den Mund ein, um die retronasal wahrgenommenen Aromen zu verstärken. Der Abgang wird separat in Verkostungsnotizen festgehalten und fließt maßgeblich in die Gesamtbewertung ein.

Beispiele & Anwendung

Konkrete Beispiele

Lange, komplexe Abgänge:

  • Barolo (Italien, Piemont): Nebbiolo-Weine zeigen oft 30+ Sekunden Abgang mit sich entwickelnden Noten von Teer, Rosen und getrockneten Früchten
  • Großer Gewächse Riesling (Deutschland): Mineralische Länge mit Zitrusaromen, die minutenlang anhalten
  • Châteauneuf-du-Pape (Frankreich): Würzige Komplexität mit langer Präsenz von Kräutern und dunklen Früchten
  • Vintage Port: Süße, tanninreiche Länge mit Pflaumen- und Schokoladennoten über 40+ Sekunden

Mittlere Abgänge (typisch für Qualitätsweine):

  • Gute Rioja Crianza: 10-15 Sekunden mit würzigen Vanillenoten
  • Chablis Premier Cru: Klare, mineralische Länge von 12-18 Sekunden

Kurze Abgänge (einfache Weine):

  • Einfacher Landwein: 3-5 Sekunden, wenig Entwicklung

Praktische Tipps

  1. Konzentration: Lenken Sie nach dem Schlucken Ihre volle Aufmerksamkeit auf den Mundraum. Schließen Sie kurz die Augen, um sich besser zu fokussieren.

  2. Atmung: Atmen Sie vorsichtig durch den Mund ein – dies verstärkt die retronasal wahrgenommenen Aromen.

  3. Timing: Zählen Sie die Sekunden, in denen Sie noch deutliche Geschmackseindrücke wahrnehmen. Notieren Sie die Länge.

  4. Qualitätsmerkmale beachten: Ein guter Abgang sollte harmonisch sein, nicht bitter oder adstringent wirken, und sich idealerweise entwickeln.

Historischer Kontext

Die systematische Beachtung des Abgangs in der Weinbewertung entwickelte sich mit der Professionalisierung der Weinverkostung im 20. Jahrhundert. Während früher vor allem der erste Eindruck zählte, erkannte man zunehmend, dass die Länge und Komplexität des Abgangs verlässlichere Qualitätsindikatoren sind.

Der Begriff "Caudalie" wurde vom französischen Önologen Émile Peynaud in den 1950er Jahren geprägt und etablierte erstmals eine messbare Einheit für die Länge des Abgangs. Diese wissenschaftliche Herangehensweise revolutionierte die Weinbewertung.

In der modernen Önologie versteht man immer besser, welche chemischen Verbindungen für einen langen Abgang verantwortlich sind – etwa bestimmte Phenole, Terpene und Schwefelverbindungen, die sich langsam im Mundraum freisetzen.

Länder- und regionsspezifische Besonderheiten

Deutschland: Der Begriff "Abgang" ist fest in der Weinsprache verankert. Bei Riesling-Weinen wird besonders auf die mineralische Länge geachtet. Deutsche Weinkritiker bewerten die "Länge" oft separat in ihren Verkostungsnotizen.

Frankreich: Man spricht von "finale" oder "longueur en bouche" (Länge im Mund). Die Caudalie ist die gebräuchliche Maßeinheit. Bei Bordeaux-Weinen gilt ein Abgang von mindestens 15-20 Caudalies als Qualitätsmerkmal.

Italien: Der Begriff "persistenza" (Persistenz) wird verwendet. Italienische Weine, besonders aus Nebbiolo oder Sangiovese, sind für ihre außergewöhnliche Länge bekannt.

Spanien: "Final de boca" bezeichnet den Abgang. Bei spanischen Spitzenweinen aus Rioja oder Ribera del Duero wird die Länge als Qualitätskriterium hoch geschätzt.

Englischsprachiger Raum: "Finish" und "length" werden synonym verwendet. Kritiker wie Robert Parker machten die Länge zu einem zentralen Bewertungskriterium. "Short finish" gilt als deutliche Schwäche.

Österreich: Ähnlich wie in Deutschland wird "Abgang" verwendet, bei Grünem Veltliner achtet man besonders auf den pfeffrigen, würzigen Nachklang.

Verwandte Begriffe & Verlinkungen

  • Nachhall: Praktisch synonym mit Abgang, betont aber noch stärker das zeitliche Element des nachhallenden Geschmacks.

  • Aroma: Die im Abgang wahrgenommenen Geschmacksnuancen sind eng mit den Aromastoffen des Weins verbunden, die sich retronasal entfalten.

  • Bukett: Während das Bukett die Geruchseindrücke in der Nase beschreibt, zeigt der Abgang, wie sich diese Aromen im Mund weiterentwickeln.

  • Textur: Die Mundgefühlskomponente des Abgangs – ob samtig, adstringierend oder cremig – ist Teil der Gesamttextur.

  • Gerbstoff (Tannine): Tannine prägen maßgeblich den Abgang von Rotweinen und sind für die Länge und Struktur verantwortlich.

  • Adstringenz: Eine übermäßig adstringierende Wirkung im Abgang kann die Qualität mindern, während moderate Adstringenz Struktur gibt.

  • Degustation: Der Abgang ist die finale Phase der professionellen Weinverkostung.

  • Weinfehler: Fehler wie Korkgeschmack oder Oxidation zeigen sich oft besonders deutlich im Abgang.

Häufige Fragen & Missverständnisse

Frage Ist ein langer Abgang immer ein Zeichen für hohe Qualität? Antwort Nicht automatisch. Die Länge allein ist kein Qualitätsmerkmal – der Abgang muss auch harmonisch und angenehm sein. Ein langer, aber bitterer oder chemischer Abgang deutet auf Qualitätsprobleme hin. Entscheidend ist die Kombination aus Länge, Komplexität und Balance.

Frage Wie lange sollte ein guter Abgang mindestens sein? Antwort Bei einfachen Alltagsweinen sind 5-8 Sekunden normal. Gute Qualitätsweine erreichen 10-15 Sekunden. Spitzenweine liegen bei 20-30 Sekunden oder mehr. Die Erwartung hängt auch vom Weintyp ab: Ein leichter Sommerwein muss nicht ewig anhalten, ein großer Barolo schon.

Frage Verändert sich der Abgang mit der Reife des Weins? Antwort Ja, deutlich. Junge Weine haben oft fruchtbetonte, aber kürzere Abgänge. Mit der Reife entwickeln sich komplexere Tertiäraromen, und die Integration der Komponenten führt meist zu einem längeren, harmonischeren Abgang. Bei überlagerten Weinen kann der Abgang jedoch wieder kürzer und flacher werden.

Frage Warum schmeckt der Abgang anders als der erste Eindruck? Antwort Im Abgang treten andere Aromen in den Vordergrund, weil sich bestimmte Moleküle zeitverzögert freisetzen und weil die retronasal wahrgenommenen Geruchseindrücke andere Aspekte des Weins betonen als die direkte nasale Wahrnehmung. Zudem können sich Säure, Tannine und Alkohol im Mundraum entwickeln.

Frage Kann man den Abgang trainieren? Antwort Absolut. Wie alle Aspekte der Verkostung lässt sich die Wahrnehmung des Abgangs durch bewusstes Training verbessern. Konzentrieren Sie sich systematisch darauf, zählen Sie die Sekunden, und notieren Sie Ihre Eindrücke. Mit der Zeit entwickeln Sie ein feines Gespür für Länge und Qualität.

Expertentipp

Der Abgang ist Ihr verlässlichster Verbündeter beim Weinkauf. Wenn Sie in einer Weinhandlung verkostet werden, konzentrieren Sie sich besonders auf diesen Moment: Ein Wein mag im ersten Eindruck beeindrucken, aber erst der Abgang zeigt, ob diese Versprechen eingelöst werden. Mein persönlicher Tipp: Warten Sie nach dem Schlucken bewusst 15-20 Sekunden und atmen Sie dabei zwei- bis dreimal vorsichtig durch den Mund ein. Wenn der Wein Sie in dieser Phase noch mit neuen Facetten überrascht und die Aromen präsent bleiben, haben Sie einen Wein gefunden, der sein Geld wert ist.

Bei der Speisenbegleitung spielt der Abgang eine oft unterschätzte Rolle: Ein Wein mit langem, säurebetontem Abgang reinigt den Gaumen optimal zwischen den Bissen – ideal zu fettreichen Speisen. Ein Wein mit süßem, fruchtigen Abgang harmoniert perfekt mit Desserts, da er die Süße aufnimmt und nicht dagegen ankämpft. Berücksichtigen Sie dies bei der Weinauswahl zum Essen.