Tannine - Das Rückgrat des Rotweins
Tannine sind phenolische Verbindungen, die Struktur, Alterungsfähigkeit und das charakteristische Mundgefühl von Rotwein prägen.
Kurzdefinition
Tannine (Gerbstoffe) sind phenolische Verbindungen, die hauptsächlich in Traubenschalen, Kernen und Stielen vorkommen und bei Rotwein während der Maischegärung extrahiert werden. Sie sind verantwortlich für Struktur, Adstringenz, Bitterkeit und das Alterungspotenzial von Wein.
Auf einen Blick:
- Kategorie: Chemie, Sensorik, Weinbereitung
- Herkunft: Natürliche Pflanzenstoffe (Polyphenole)
- Synonyme: Gerbstoffe, Polyphenole (übergeordnet)
- Englisch: Tannins
Detaillierte Erklärung
Tannine gehören zur Gruppe der Polyphenole und sind komplexe organische Moleküle, die in vielen Pflanzen vorkommen – von Teeblättern über Nüsse bis zu Eichenholz. Im Weinbau sind sie eines der wichtigsten strukturgebenden Elemente, besonders bei Rotwein.
Herkunft der Tannine im Wein:
1. Traubentannine (primär)
- Schalentannine: Die wichtigste Quelle, qualitativ hochwertig, feinkörnig
- Kerntannine: Härter, bitterer, werden bei zu langer Maischestandzeit oder zu starkem Pressen extrahiert
- Stieltannine: Grün, bitter, werden durch Entstielen weitgehend vermieden
2. Holztannine (sekundär)
- Stammen aus Eichenholzfässern (Barrique)
- Fügen sich langsam während der Fassreife hinzu
- Qualitativ anders als Traubentannine: weicher, vanilliger
Chemische Struktur und Eigenschaften:
Tannine sind Polymere aus Flavonoid-Einheiten. Ihre Größe und Struktur bestimmt ihre Wirkung:
- Kleine Tannine: Bitter, hart, adstringierend
- Große, polymerisierte Tannine: Weich, samtig, weniger adstringierend
Wirkung im Mund:
Tannine binden an Speichelproteine und Mundschleimhautproteine, was das charakteristische "pelzige", zusammenziehende Gefühl der Adstringenz erzeugt. Sie beeinflussen auch die Geschmackswahrnehmung durch leichte Bitterkeit.
Funktionen im Wein:
1. Struktur: Tannine geben dem Wein Rückgrat und "Griff" 2. Alterungsfähigkeit: Fungieren als Antioxidantien und ermöglichen lange Lagerung 3. Komplexität: Tragen zur Geschmacks- und Texturkomplexität bei 4. Balance: Balancieren Frucht und Säure, besonders bei vollmundigen Weinen
Evolution während der Reifung:
Mit der Zeit polymerisieren Tannine zu größeren Molekülen und verbinden sich mit Anthocyanen (Farbstoffen). Diese größeren Moleküle sind weniger adstringierend und fallen schließlich als Depot aus – daher werden alte Rotweine weicher und verlieren Farbe.
Praktische Bedeutung
Im Glas
Tannine sind unmittelbar spürbar: Das trockene, zusammenziehende Gefühl auf Zunge und Zahnfleisch, die leichte Bitterkeit. Bei jungen, tanninreichen Weinen kann der Mund sich regelrecht pelzig anfühlen. Bei gereiften Weinen sind die Tannine integriert und samtig.
Beim Einkauf
Der Tanningehalt ist ein wichtiges Kaufkriterium:
- Hohe Tannine: Ideal für Lagerung, passt zu kräftigen Fleischgerichten
- Moderate Tannine: Vielseitig einsetzbar, zugänglicher
- Niedrige Tannine: Sofort trinkbar, zu leichteren Gerichten
Bei der Verkostung
Professionelle Verkoster bewerten Tannine nach mehreren Kriterien:
- Quantität: Niedrig, mittel, hoch, sehr hoch
- Qualität: Grün/unreif, reif, edel, seidig
- Körnigkeit: Fein, mittel, grob, sandig
- Reife: Jung/hart, integriert, voll gereift, abgebaut
Beispiele & Anwendung
Tanninreiche Rebsorten und Weine
Sehr hohe Tannine:
- Nebbiolo (Barolo, Barbaresco): Extrem tanninreich in der Jugend, braucht 10-20 Jahre zur Reife
- Cabernet Sauvignon: Kraftvolle, strukturierte Tannine, gutes Alterungspotenzial
- Tannat: Namensgebend ("tanninreich"), sehr robust, adstringierend
- Sangiovese (Brunello): Kräftige Tannine mit typischer Bitterkeit
Moderate bis hohe Tannine:
- Syrah/Shiraz: Reife, griffige Tannine
- Tempranillo: Ausgewogene Tannine, besonders nach Barrique-Ausbau
- Malbec: Saftige Tannine, weniger aggressiv als Cabernet
Niedrige Tannine:
- Pinot Noir: Seidige, feine Tannine trotz langer Maischestandzeit
- Gamay (Beaujolais): Sehr geringe Tannine durch Kohlensäuremaischung
- Grenache: Weiche, runde Tannine
Tannin-Management in der Weinbereitung:
Winzer haben verschiedene Techniken, um Tanninstruktur zu steuern:
- Maischestandzeit: Je länger, desto mehr Tannine (2-30 Tage)
- Temperatur: Höhere Temperaturen extrahieren mehr Tannine
- Pigeage (Unterstoßen): Intensive Extraktion durch mechanisches Mischen
- Délestage: Ablassen und Zurückpumpen für sanfte Extraktion
- Barrique-Ausbau: Fügt Holztannine hinzu, rundet Tannine ab
- Micro-Oxygenierung: Beschleunigt Tanninpolymerisation
Praktische Tipps zum Umgang mit Tanninen
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Dekantieren: Junge, tanninreiche Weine profitieren enorm vom Dekantieren – Sauerstoff beginnt die Polymerisation
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Temperatur: Zu kalt servierte Rotweine schmecken härter und tanninbetonter. Ideal: 16-18°C
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Speisenbegleitung: Proteine und Fette binden Tannine:
- Steak zu tanninreichem Wein = perfekte Kombination
- Tanninreicher Wein zu Fisch = metallisch, bitter
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Geduld: Tanninreiche Weine brauchen Zeit – im Glas (1-2 Stunden) und im Keller (Jahre)
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Glaswahl: Große Gläser mit breiter Öffnung helfen, Tannine zu mildern
Historischer Kontext
Die Rolle der Tannine wurde erst im 19. Jahrhundert wissenschaftlich verstanden. Zuvor wussten Winzer empirisch, dass Rotweine länger haltbar waren als Weißweine und dass bestimmte Rebsorten "mehr Griff" hatten.
Der französische Chemiker Louis Pasteur legte im 19. Jahrhundert die Grundlagen zum Verständnis der Weinchemie. Die spezifische Rolle der Tannine als Antioxidantien und strukturgebende Elemente wurde jedoch erst im 20. Jahrhundert vollständig erforscht.
Die Bordeaux-Region perfektionierte über Jahrhunderte die Kunst der Tanninextraktion bei Cabernet Sauvignon – lange Maischestandzeiten und Fassreife wurden zum Standard für lagerfähige Rotweine.
Im späten 20. Jahrhundert führte der "Parker-Effekt" zu einem Trend hin zu sehr tanninreichen, kraftvollen Weinen. In den 2000er Jahren folgte eine Gegenbewegung hin zu eleganteren Weinen mit reiferen, samtigeren Tanninen.
Die moderne Önologie verfügt über präzise Messmethoden für Tannine (Phenolindex) und kann gezielt Tanninstrukturen im Wein steuern. Neue Erkenntnisse zeigen auch die gesundheitlichen Vorteile von Tanninen (Antioxidantien, Herz-Kreislauf-Schutz).
Länder- und regionsspezifische Besonderheiten
Frankreich: Tannine sind ein zentrales Qualitätskriterium, besonders in Bordeaux. Man unterscheidet zwischen "tannins verts" (grüne, unreife Tannine – negativ) und "tannins mûrs" (reife Tannine – positiv).
Italien: Italienische Weine, besonders aus Nebbiolo und Sangiovese, sind für kraftvolle Tannine bekannt. Der Begriff "astringenza" (Adstringenz) ist ein wichtiges Bewertungskriterium.
Spanien: Traditionell wurden spanische Weine lange im Fass gelagert, um Tannine zu mildern. Moderne Weine zeigen oft fruchtigere Tannine mit kürzerer Fasslagerung.
Argentinien: Argentinischer Malbec ist bekannt für "süße", reife Tannine – weniger aggressiv als europäische Pendants.
Australien: Australischer Shiraz zeigt oft sehr reife, weiche Tannine durch vollreife Trauben und warmes Klima.
Deutschland/Österreich: Bei Spätburgunder (Pinot Noir) werden gezielt feine, seidige Tannine angestrebt. Der Begriff "Gerbstoff" wird synonym zu Tannin verwendet.
Verwandte Begriffe & Verlinkungen
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Adstringenz: Die direkte sensorische Wirkung der Tannine – das zusammenziehende Mundgefühl.
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Textur: Tannine sind die wichtigste Komponente für die Textur von Rotweinen.
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Phenole: Die übergeordnete chemische Gruppe, zu der Tannine gehören.
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Abgang: Tannine prägen maßgeblich die Länge und Struktur des Abgangs.
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Barrique: Eichenholzfässer fügen Holztannine hinzu und runden Traubentannine ab.
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Maischestandzeit: Die Dauer des Schalenkontakts bestimmt die Tanninextraktion.
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Alterung: Tannine ermöglichen und prägen die Alterungsfähigkeit von Rotwein.
Häufige Fragen & Missverständnisse
Frage: Sind Tannine gesund oder schädlich?
Antwort: Tannine sind gesund! Sie gehören zu den Polyphenolen, die als Antioxidantien wirken. Studien zeigen positive Effekte auf das Herz-Kreislauf-System. Das "französische Paradoxon" (niedriges Herzinfarktrisiko trotz fettreicher Ernährung) wird teilweise auf Tannine im Rotwein zurückgeführt. Bei empfindlichen Menschen können Tannine aber Kopfschmerzen auslösen.
Frage: Warum haben Weißweine keine Tannine?
Antwort: Weißweine haben sehr wenig Tannine, weil sie ohne Schalenkontakt vergoren werden. Die Trauben werden sofort gepresst, der Saft von Schalen getrennt. Bei Orange Wines (maischevergorene Weißweine) und Holzfass-ausgebauten Weißweinen sind aber durchaus Tannine vorhanden.
Frage: Werden Tannine mit der Zeit schwächer?
Antwort: Ja. Tannine polymerisieren im Laufe der Jahre zu größeren Molekülen, die weniger adstringierend wirken und schließlich als Depot ausfallen. Deshalb sind alte Rotweine weicher und benötigen oft Dekantieren vom Depot. Ein 30 Jahre alter Barolo ist viel sanfter als derselbe Wein mit 5 Jahren.
Frage: Kann man zu viele Tannine im Wein haben?
Antwort: Ja, absolut. Zu harte, grüne oder bittere Tannine gelten als Weinfehler. Ursachen: Unreife Trauben, zu lange Maischestandzeit, Extraktion von Kerntanninen durch zu starkes Pressen, oder Stieltannine durch ungenügendes Entstielen. Qualitativ hochwertige Tannine sind reif, feinkörnig und integriert.
Frage: Warum schmecken manche Weine nach Tee oder sind bitter?
Antwort: Das sind Anzeichen für unreife oder übermäßig extrahierte Tannine. Der "grüne Tee"-Geschmack kommt von unreifen Traubentanninen. Bitterkeit kann von Kerntanninen oder Überextraktion stammen. Bei jungen Weinen kann sich das mit Reife verwachsen, bei überextrahierten Weinen bleibt es ein Makel.
Expertentipp
Die Qualität der Tannine ist wichtiger als die Quantität! Ein Wein mit hohen, aber reifen und seidigen Tanninen ist besser als ein Wein mit moderaten, aber grünen, bitteren Tanninen. Achten Sie beim Probieren nicht nur darauf, wie viel Tannin da ist, sondern wie es sich anfühlt: Ist es samtig und elegant oder rau und aggressiv?
Mein praktischer Tipp für den Alltag: Wenn Sie einen jungen, tanninreichen Wein trinken müssen (z.B. einen aktuellen Bordeaux oder Barolo), kombinieren Sie ihn mit proteinreichen Speisen. Ein gutes Steak oder gereifter Hartkäse bindet die Tannine und macht den Wein viel zugänglicher. Alternativ: Dekantieren Sie den Wein 2-3 Stunden vor dem Trinken.
Für Sammler: Tanninreiche Weine sind eine Investition in die Zukunft. Kaufen Sie junge Barolo, Bordeaux oder Brunello, lagern Sie sie 10-20 Jahre, und Sie werden mit samtigen, komplexen Weinen belohnt. Der Geduldspreis lohnt sich!