Wein-Glossar

Degustation - Die Kunst der systematischen Weinverkostung

5. Dezember 2025
verkostungsensorikweinbildungmethodik

Die Degustation ist die systematische, professionelle Weinverkostung. Lernen Sie die Methode und Phasen der Weinbewertung kennen.

Kurzdefinition

Degustation (französisch: Dégustation) bezeichnet die systematische, professionelle Verkostung von Wein nach festgelegten Kriterien. Sie dient der objektiven Bewertung von Qualität, Charakter und Entwicklungspotenzial eines Weins und folgt einem strukturierten Ablauf von der visuellen über die olfaktorische bis zur gustatorischen Prüfung.

Auf einen Blick:

  • Kategorie: Verkostung, Methodik
  • Herkunft: Französisch "déguster" (kosten, probieren)
  • Synonyme: Weinverkostung, Weinprobe, Tasting
  • Englisch: Wine tasting, Degust​ation

Detaillierte Erklärung

Die Degustation ist weit mehr als einfaches Weintrinken – sie ist eine systematische Analyse, die alle Sinne einbezieht und nach standardisierten Methoden abläuft. Professionelle Degustatoren folgen einem klaren Protokoll, um Weine objektiv und vergleichbar zu bewerten.

Die drei Phasen der Degustation:

1. Visuelle Phase (Das Auge)

Bewertung von Farbe, Intensität, Klarheit und Viskosität:

  • Farbe: Gibt Hinweise auf Alter, Rebsorte, Herkunft
    • Weißwein: Von blassgelb über gold bis bernstein
    • Rotwein: Von purpur über rubinrot bis ziegelrot/orange
  • Intensität: Tief/kräftig vs. blass/hell
  • Klarheit: Brilliant, klar, leicht trüb, trüb
  • Tränen ("Kirchenfenster"): Hinweis auf Alkohol und Glycerin

Technik: Glas vor weißen Hintergrund kippen, bei natürlichem Licht betrachten

2. Olfaktorische Phase (Die Nase)

Bewertung der Aromen in zwei Schritten:

  • Erster Geruch (unbewegt): Flüchtige, leichte Aromen
  • Zweiter Geruch (geschwenkt): Komplexere, schwerere Aromen durch Belüftung

Bewertet werden:

  • Intensität: Verschlossen, moderat, ausgeprägt, intensiv
  • Qualität: Sauber, komplex, fehlerhaft
  • Charakteristik: Primär-, Sekundär-, Tertiäraromen
  • Entwicklung: Wie entfalten sich die Aromen im Glas?

3. Gustatorische Phase (Der Mund)

Die umfassendste Phase, unterteilt in:

  • Angriff (erste 2-3 Sekunden): Erster Eindruck – süß, sauer, Alkohol
  • Mittelteil (Evolution im Mund): Entwicklung der Aromen, Textur, Balance
  • Abgang (nach dem Schlucken): Länge, Nachhall, Qualität

Bewertet werden:

  • Geschmack: Süße, Säure, Bitterkeit, Salzigkeit
  • Struktur: Tannine (Rotwein), Säure, Alkohol, Körper
  • Textur: Mundgefühl, Adstringenz, Cremigkeit
  • Balance: Harmonie aller Komponenten
  • Länge: Dauer des Nachhalls
  • Komplexität: Vielschichtigkeit der Eindrücke

Degustationsmethoden:

Horizontal-Verkostung: Mehrere Weine derselben Region/Rebsorte aus demselben Jahrgang

  • Ziel: Vergleich von Produzenten, Terroirs, Stilen

Vertikal-Verkostung: Mehrere Jahrgänge desselben Weins

  • Ziel: Verständnis der Evolution, Einfluss des Jahrgangs

Blind-Verkostung: Weine ohne Kenntnis der Identität

  • Ziel: Objektive Bewertung ohne Voreingenommenheit

Triangel-Test: Zwei identische Weine + ein anderer

  • Ziel: Schulung der Unterscheidungsfähigkeit

Praktische Bedeutung

Im professionellen Kontext

Degustationen sind essentiell für:

  • Weinkritiker: Objektive Bewertung und Punktevergabe
  • Sommeliers: Auswahl für Weinkarten, Speisenbegleitung
  • Weinhändler: Einkaufsentscheidungen, Qualitätskontrolle
  • Winzer: Qualitätskontrolle während der Produktion, Assemblage
  • Wein-Ausbildung: Training angehender Weinprofis

Für Weinliebhaber

Degustationstechniken helfen:

  • Bewusster und differenzierter zu schmecken
  • Qualität objektiver zu beurteilen
  • Persönliche Vorlieben zu identifizieren
  • Wein besser zu verstehen und zu genießen

Beispiele & Anwendung

Standardisierte Degustationsbögen

Professionelle Degustationen nutzen strukturierte Bewertungsbögen:

WSET-Methode (Wine & Spirit Education Trust):

  • Optische Prüfung (Aussehen)
  • Geruchsprüfung (Nase)
  • Geschmacksprüfung (Gaumen)
  • Schlussfolgerungen (Qualität, Trinkreife, Potential)

UC Davis 20-Punkte-Skala:

  • Aussehen (2 Punkte)
  • Farbe (2 Punkte)
  • Aroma/Bukett (4 Punkte)
  • Geschmack (2 Punkte)
  • Abgang (2 Punkte)
  • Balance (2 Punkte)
  • Gesamteindruck (6 Punkte)

100-Punkte-Skala (Parker/Wine Spectator):

  • 95-100: Außergewöhnlich
  • 90-94: Hervorragend
  • 85-89: Sehr gut
  • 80-84: Gut
  • 75-79: Durchschnittlich
  • Unter 75: Nicht empfehlenswert

Praktische Tipps für erfolgreiche Degustationen

Vorbereitung:

  1. Neutraler Raum: Geruchsfrei, gut beleuchtet, ruhig
  2. Richtige Gläser: Genormte Degustationsgläser oder ISO-Gläser
  3. Temperatur: Weine auf korrekte Temperatur bringen
  4. Neutralisierung: Wasser und Weißbrot zur Gaumenreinigung
  5. Reihenfolge: Leicht vor schwer, jung vor alt, trocken vor süß

Während der Degustation:

  1. Kleine Mengen: 30-50ml pro Wein reichen
  2. Zeit lassen: Mindestens 2-3 Minuten pro Wein
  3. Notizen machen: Sofort festhalten, nicht aus dem Gedächtnis
  4. Ausspucken: Bei mehr als 6-8 Weinen zwingend notwendig
  5. Pausen einlegen: Nach 10-12 Weinen kurze Pause

Häufige Fehler vermeiden:

  • Nicht zu viel riechen (Geruchsermüdung)
  • Nicht zu viele Weine (maximal 20-25 pro Session)
  • Keine starken Parfums/Düfte tragen
  • Nicht während des Essens degustieren
  • Keine Vorurteile durch Etiketten-Kenntnis (blind verkosten!)

Historischer Kontext

Die systematische Weinverkostung hat alte Wurzeln, aber die moderne Degustation entwickelte sich erst im 20. Jahrhundert. Französische Weinschulen und Handelshäuser etablierten standardisierte Methoden zur Qualitätsbewertung.

In den 1950er Jahren entwickelte Émile Peynaud wissenschaftliche Grundlagen der Weinverkostung und bildete Generationen von Degustations-Profis aus. Seine Bücher gelten als Standardwerke.

Die 1970er Jahre sahen die Professionalisierung durch Institutionen wie das Court of Master Sommeliers und das Wine & Spirit Education Trust (WSET), die standardisierte Ausbildungen und Prüfungen einführten.

Robert Parker revolutionierte in den 1980ern die Weinbewertung mit seinem 100-Punkte-System, was zu einer Demokratisierung und gleichzeitig Standardisierung der Degustationspraxis führte.

Heute gibt es weltweit anerkannte Degustations-Zertifizierungen (Master of Wine, Master Sommelier, WSET Diploma), die höchste Standards setzen.

Länder- und regionsspezifische Besonderheiten

Frankreich: Die Degustation ist tief in der Weinkultur verankert. Jedes Château und jede Cave bietet Degustationen an. Der Begriff "dégustation" ist universell.

Italien: "Degustazione" ist verbreitet, oft verbunden mit Essen (Abbinamento). Italienische Degustationstraditionen betonen den Kontext von Speise und Wein.

Deutschland: Professionelle Weinprüfungen haben lange Tradition. Die "Amtliche Prüfung" mit Prüfnummer ist gesetzlich geregelt.

Spanien: "Cata" bezeichnet die Verkostung. Spanische Sommelier-Ausbildung ist sehr hoch entwickelt.

USA: Weinverkostung ist populär und zugänglich. "Wine tasting" in Napa/Sonoma ist touristisches Highlight.

Australien/Neuseeland: Sehr professionelle Degustationskultur mit starkem Fokus auf Wettbewerbe und Bewertungen.

Verwandte Begriffe & Verlinkungen

  • Aroma: Die Geruchskomponente, die in der olfaktorischen Phase der Degustation bewertet wird.

  • Bukett: Spezifische Aromenkategorie bei gereiften Weinen, wichtiger Degustationsaspekt.

  • Abgang: Die finale Phase der Degustation, entscheidend für die Gesamtbewertung.

  • Textur: Das Mundgefühl, ein zentraler Aspekt der gustatorischen Phase.

  • Adstringenz: Wichtige Texturkomponente bei Rotweinen, die während der Degustation bewertet wird.

  • Blind-Tasting: Degustationsmethode ohne Kenntnis der Weinidentität für objektive Bewertung.

Häufige Fragen & Missverständnisse

Frage: Muss man bei einer Degustation alle Weine austrinken?

Antwort: Nein, im Gegenteil! Bei professionellen Degustationen mit vielen Weinen ist Ausspucken Standard und notwendig, um klar im Urteil zu bleiben. Niemand schafft 20 Weine à 50ml zu trinken und dabei objektiv zu bleiben. Ausspucken ist kein Zeichen von Respektlosigkeit, sondern von Professionalität.

Frage: Kann jeder Degustation lernen?

Antwort: Absolut! Degustieren ist eine trainierbare Fähigkeit. Mit systematischer Übung kann jeder lernen, Weine differenziert wahrzunehmen und zu bewerten. Zertifikatskurse wie WSET bieten strukturierte Ausbildungen für alle Levels – vom Einsteiger bis zum Profi.

Frage: Warum schwenken Profis den Wein im Glas?

Antwort: Schwenken belüftet den Wein und setzt Aromastoffe frei. Die Rotation vergrößert die Kontaktfläche mit Luft, wodurch sich besonders schwerflüchtige Aromen entfalten. Es ist kein Ritual, sondern hat einen praktischen Grund. Aber: Nicht übertreiben – sanftes Kreisen reicht.

Frage: Ist die 100-Punkte-Skala objektiv?

Antwort: Nein, völlig objektive Weinbewertung ist unmöglich, da Geschmack immer subjektiv ist. Die Skala hilft aber, Bewertungen zu standardisieren und vergleichbar zu machen. Gute Kritiker nutzen klare Kriterien und bewerten konsistent, aber ihre Präferenzen fließen mit ein. Deshalb: Mehrere Kritiker vergleichen!

Frage: Warum schmecken Weine bei Degustationen anders als zuhause?

Antwort: Mehrere Faktoren: Bei Degustationen werden kleine Mengen verkostet, oft ohne Essen, in konzentrierter Atmosphäre. Zudem spielen Kontext, Erwartungen und die Vergleichsmöglichkeit mit anderen Weinen eine Rolle. Ein Wein zum Essen daheim schmeckt oft zugänglicher als isoliert bei einer Degustation.

Expertentipp

Der wichtigste Tipp für Degustat​ions-Einsteiger: Entwickeln Sie Ihr persönliches Aromavokabular und notieren Sie Ihre Eindrücke immer schriftlich! Kaufen Sie sich ein Degustationsnotizbuch und beschreiben Sie jeden Wein, den Sie probieren. Mit der Zeit entwickeln Sie nicht nur Ihre Wahrnehmung, sondern auch Ihren persönlichen Referenzrahmen.

Meine persönliche Empfehlung für zu Hause: Organisieren Sie regelmäßig kleine Degustationen mit Freunden – blind verkosten macht Spaß und schult das Urteilsvermögen enorm. Investieren Sie in 6-8 genormte INAO-Degustationsgläser (kosten zusammen ca. 30-50 Euro) und machen Sie monatliche Themenverkostungen (z.B. "Pinot Noir weltweit" oder "Riesling aus verschiedenen Regionen").

Für angehende Profis: Melden Sie sich für einen WSET-Level-2-Kurs an. Die Investition (ca. 400-600 Euro) lohnt sich – Sie lernen systematisches Degustieren von Grund auf und bekommen ein weltweit anerkanntes Zertifikat. Die Methodik, die Sie dort lernen, wird Ihre Weinwahrnehmung revolutionieren.